Ich hab’ Sie hier jetzt schon ein paar Mal raus- und reingehen sehen und da dachte ich mir, dass Sie hier jetzt wohl wohnen. Wollen Sie nicht mal zu einem Tee rüberkommen? Wir backen die Kekse auch selbst.
Mit diesen Worten begrüßte mich meine englische Nachbarin am dritten Tag meines Auslandssemesters im malerischen Städtchen Falmouth in England, freundlich lächelnd. Sie stand im Garten, während ich gerade die Stufen zu meiner neuen Heimat hochstieg. Diese Begrüßung war ein kleiner Kulturschock für mich. Ich, als Kind aus einer deutschen Großstadt, wurde in den 21 Jahren, die ich dort wohnte, nicht ein einziges Mal von meinen Nachbarn eingeladen oder andersherum. Eigentlich kenne ich meine Nachbarn nicht mal, wurde mir dann erst bewusst. Aber hatte ich das je vermisst?
Wenn es schon innerhalb Europas solche Unterschiede gibt, wie muss man sich erst fühlen, wenn man von einem Land, in dem Nachbarn wie Familie sind, nach Deutschland zieht? Dieser Frage geht die Münchner Initiative "Die Teilgeber" nach. Sie will herausfinden, was für gute Nachbarschaft wichtig ist und diese in den Stadtvierteln fördern.
Ein Buch, 28 persönliche Geschichten
„Die Teilgeber“ haben in diesem Rahmen 28 engagierte Menschen aus verschiedenen Ländern gefragt, wie sie Nachbarschaft in ihren Herkunftsländern kennen und jetzt in München erleben. Es ist eine bunte Mischung an Themen entstanden: von der Rolle der Frau, über Flucht und Vertreibung, schöne Traditionen bis hin zu neu entstandenen Freundschaften. Ihre Geschichten werden seit September 2017 in einer Wanderausstellung an verschiedenen Orten in München gezeigt. Dazu gibt es ein Buch „Mein Nachbar aus…“ das ihr kostenlos als PDF herunterladen könnt. Hier sind die Erfahrungen der Erzähler niedergeschrieben, begleitet von liebevollen Illustrationen der oberfränkischen Künstlerin Franziska Fröhlich.
Beim Lesen wird mir sofort klar, dass Nachbarschaft in den verschiedenen Herkunftsländern einen ganz anderen Stellenwert hat als für mich, und vermutlich auch für die meisten Deutschen. Fariha aus Pakistan erzählt:
Die Leute in Pakistan legen sehr viel Wert darauf, guten Kontakt zu den Nachbarn zu haben. Man sagt bei uns: Die Verwandten kommen erst nach den Nachbarn. Denn die Nachbarn sind die, die zuerst da sind, wenn man sich in einer schwierigen Situation befindet. Man versucht den Kontakt zu pflegen, das ganze Leben lang.
Ich stelle fest, wie groß der Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft zwischen den Nachbarn sein kann. Annie, die schon in jungen Jahren aus Pakistan fliehen musste, beschreibt dies so:
Man hat sich immer in der Nachbarschaft geholfen, auch ohne Geld. Der eine kannte sich zum Beispiel gut mit dem Koran aus, ein anderer in Mathe. So hat man einander mit Wissen in der Nachbarschaft geholfen, jeder mit dem, was er gut konnte.
Das sind nur einige von unzähligen Beispielen, bei denen Nachbarn in den verschiedensten Lebenslagen füreinander da sind. Sei es die Geburt eines Kindes im Irak, bei denen die Frauen aus der Nachbarschaft kommen und das Kind waschen und die darauf folgende Woche für die Mutter kochen. Oder wie in Burkina Faso, wenn es einen Trauerfall in der Familie gab, bei dem die ganze Nachbarschaft für die Familie kocht und putzt und aus Respekt auf Feste verzichtet.
Was mich auch überrascht: wie einfach es in der Nachbarschaft möglich ist, die vermeintlichen Unterschiede von verschiedenen Religionen zu überwinden.
„Ich erinnere mich an diese Schönheit zwischen den Religionen in der Nachbarschaft. Niemand kann heute mehr glauben, wie die Harmonie in Syrien war. Die Nachbarn waren Muslime, Christen, Juden und Aleviten. Das war kein Problem. Im Sommer hielt man sich meistens im Hof auf. In den Höfen waren die Familien und vor allem die Frauen, um sich zu entspannen und die alltägliche Arbeit zu erledigen. Wir trockneten Aprikosen, machten die Erbsen aus den Schoten oder sortierten Spinat. Es saßen oft bis zu zehn Frauen zusammen, lachten, tranken Kaffee. Das war wie ein großes Fest.“
erzählt Zahra, die in einem Vorort von Damaskus aufgewachsen ist, den es heute so nicht mehr gibt. Sie machte ihren Bachelor in Englischer Literatur und heiratete einen Deutschen. Mit 32 Jahren kam sie nach München und arbeitet heute in einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Gute Nachbarschaft braucht Zeit
Ich bin wirklich berührt von den Geschichten, höre aber auch heraus, wie viel diese Menschen zurück lassen mussten und wie schwer es für die meisten war, sich hier in eine ganz neue Kultur einzufinden. Da das Thema Nachbarschaft in Deutschland oft ganz anders gehandhabt wird, sind viele der Neuankömmlinge verunsichert und haben Angst, sich falsch zu verhalten. Reem aus Palästina berichtet:
„Hier in der Nachbarschaft in München haben wir nicht so einen Kontakt wie in meiner Heimat. Wir wohnen seit 17 Jahren nebeneinander und erst seit ein, zwei Jahren haben wir Kontakt. Mein einer Nachbar ist krank und ich will ihm etwas kochen oder backen und vorbeibringen. Aber ich habe Angst, ob er es überhaupt annimmt. Ich bin mir auch unsicher, was die Familien über mich denken. Man kennt sich ja doch nicht so gut. Vielleicht denken sie: ‚Diese muslimischen Leute!‘. Aber ich will es probieren. Ich glaube, es geht dabei um Kultur und um Vertrauen.“
Das zeigt mir, wie oft wir Deutschen misstrauisch gegenüber Fremden sind, gerade wenn es um Hilfe geht, die wir angeboten bekommen, ohne dass dafür eine Gegenleistung erwartet wird. Vielleicht, weil wir sie so nicht gewohnt sind? Haben wir es verlernt, was es heißt, ein guter Nachbar zu sein?
Mohammed aus Bagdad erzählt:
In Deutschland braucht Nachbarschaft Zeit. Die Deutschen sind vorsichtig, nicht wie bei uns. Wir springen einfach rein in diese Sache. In Deutschland muss man sich erst einmal kennenlernen und übereinander wissen.
All die Protagonisten des Buches haben sich Zeit genommen und sich bemüht, auch ein Stück ihrer Nachbarschaftskultur mit nach Deutschland zu bringen. Sie helfen aktiv im Nachbarschaftszentrum München-West oder im Familienzentrum aus. Außerdem haben sie Deutsch gelernt und sich Jobs oder zumindest Beschäftigungen gesucht. Ihre Bemühungen werden oft belohnt, viele der Geschichten erzählen auch von schönen Begegnungen in der Nachbarschaft. Vor allem Frauen lernen umzudenken im Bezug auf das oft festgefahrenes Rollenbild ihrer Kultur.
„In München habe ich großes Glück mit meinen Nachbarn gehabt. Damals lebte ich mit einem Mann zusammen, der mich geschlagen hat. Meine Nachbarin, diese ganz nette Frau, hat die Polizei gerufen. Dann wollte mein Mann, dass ich ausziehe. Aber ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Die Nachbarin sagte: ‚Komm zu uns, du kannst hier bleiben und wir suchen dir dann eine andere Wohnung.‘ Ich bin fast drei Monate dort gewesen, kostenlos. Ich habe dort gegessen und geschlafen und wollte wenigstens fünf Euro pro Tag zahlen. Sie hat mir geholfen, eine neue Wohnung zu finden und hat mit ihrem Mann alles in der neuen Wohnung umgebaut. Sie hat nicht einmal die fünf Euro genommen. Ich bin so dankbar dafür. Mein Leben lang werde ich diese Frau nicht vergessen.“
berichtet zum Beispiel Aster aus Äthiopien gerührt. In einem Nachbarschaftstreff ist sie zusammen mit ihrer Freundin Yetm aktiv und leitet dort die äthiopische Frauen- und Kindertanzgruppe.
Beim Lesen war ich oft ergriffen, traurig oder amüsiert. Im Anschluss merke ich, dass ich meine Nachbarschaft in einem neuen Licht sehe und wie viel ungenutztes Potential in unserem Umgang mit den Nachbarn steckt. An den Beispielen aus anderen Ländern sehe ich, dass eine echte Gemeinschaft entstehen kann, wenn man sich umeinander kümmert, statt nebeneinander herzuleben.
Außerdem merke ich, wie wichtig es ist, den Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, mit offenen Armen und offenen Herzen zu begegnen. Ihnen eine echte Chance zu geben, genauso wie viele auch uns helfen wollen, ohne einen Grund dafür zu brauchen.
Ich habe gute Nachbarschaftlichkeit nicht vermisst, weil ich sie so nicht kannte. Aber jetzt weiß ich, wie viel mir entgangen ist.
Willst du deine Nachbarn auch besser kennenlernen?
Dann werde jetzt Mitglied bei nebenan.de, Deutschlands größtem Netzwerk für Nachbarn.