»Wer sich einsam fühlt, ruft uns an«
Frau Schilling, wie kamen Sie auf die Idee, Silbernetz e.V. zu gründen?
Alte Menschen werden oft nicht gehört. Erinnern Sie sich noch an den Edeka Werbespot im Jahr 2013? An den Opa, der Weihnachten allein am Esstisch sitzt und seine Familie nur unter dem Vorwand einer vorgetäuschten Beerdigung versammeln kann? Nach einer Woche hatte dieses Video bereits über 85.000 Aufrufe auf YouTube. Für mich zeigte das eindeutig:
Wie haben Sie die Lösung gefunden?
Da ich jahrelang Telefonseelsorgerin war, lag die Idee, einen Telefon-Service anzubieten, nahe. Grandios gelöst hatte das damals schon die Briten mit ihrer „Silver Line“. Deshalb bin ich nach England gefahren, habe mich mit den Kollegen unterhalten und mir angeschaut, wie sie arbeiten. Sie haben mir sehr viele wertvolle Tipps gegeben, sodass ich 2014 im Frühjahr den Verein hier aufbauen konnte.
Welches Ziel verfolgen Sie dabei?
Mit Silbernetz versuchen wir, für ältere Menschen in ganz Deutschland Ansprechpartner im besten Sinne zu sein. Uns können sie alles erzählen. Wir hören Ihnen zu – anonym, vertraulich und natürlich kostenfrei.
Die Helpline von Silbernetz heißt „das Silbertelefon“. Wer ruft dort an?
Rund 80 Prozent unserer Anrufer sind über 60 Jahre alt. Die Spanne ist aber riesig. Meine älteste Anruferin war 109 Jahre alt und topfit. Sie hatte viel zu erzählen, aber niemanden zum Reden. Unter den Senioren gibt es – gerade im hohen Alter – leider sehr viele Single-Haushalte. Für die sind wir neben dem Pflegedienst oft der einzige Kontakt am Tag. Wir schenken ihnen 20 Minuten volle Aufmerksamkeit.
Sprechen Sie häufig mit denselben Anrufern?
Die Anrufer landen völlig zufällig in der nächsten freien Leitung. Manchmal kommt es natürlich vor, dass man mit jemandem bereits gesprochen hat. Denn die meisten rufen öfter an. Wer wirklich einsam ist, ist nach einem einzigen Gespräch nämlich nicht weniger allein.
Wie sehen solche Gespräche in der Regel aus?
Sehr unterschiedlich! Manche rufen uns morgens vom Frühstückstisch aus an und wünschen sich nur ein paar nette Worte, um in den Tag zu starten. Wir gehen immer auf die individuellen Bedürfnisse ein. Eine blinde alte Dame ruft zum Beispiel immer bei uns an, um den Wetterbericht für die nächste Woche zu erfragen. Für sie bedeutet das viel, weil sie es nicht in der Zeitung lesen kann. Und in dem Moment sind wir ein Stück weit Familie, die Woche für Woche auf ihre persönlichen Bedürfnisse eingeht, weil es sonst keiner tut.
Wenn man keine Familie mehr hat, kann gerade die Weihnachtszeit eine sehr einsame Zeit sein…
Ja, die Stille der Feiertage ist besonders bedrückend. Die Straßen sind leer, die Familien zusammen. Wer sich einsam fühlt, ruft uns an.
Wie oft kommt das vor?
Vor fünf Jahren zählten wir 360 Anrufe über die Feiertage, letztes Jahr waren es 6000. Normalerweise sind wir von 8 bis 22 Uhr erreichbar, vom 24. Dezember bis 1. Januar sind wir es rund um die Uhr. Gründe für einen Anruf gibt es auch in dieser Zeit viele: Manche erzählen Weihnachtswitze, andere singen uns etwas vor, aber die meisten wollen einfach nur reden.
Wie nimmt man einem Menschen das Gefühl der Einsamkeit?
Das können wir bestenfalls für die Dauer des Gespräches. Was wir bei Silbernetz können, ist, den Menschen in einem Telefonat 20 Minuten Zuwendung zu schenken, die sie sonst nicht bekommen. Und die Erleichterung, dass etwas ausgesprochen werden kann, was man sonst für sich behalten muss. Bei uns ist immer jemand da, der ihnen anonym zuhört und nachfragt, wie es ihnen damit geht. Rufen Sie einfach an!
Du fühlst dich einsam oder kennst von Einsamkeit betroffene Personen?
Das kostenfreie Silbertelefon erreicht ihr unter: 0800 4 70 80 90
Und wer Silbernetz e.V. unterstützen möchte, kann über www.silbernetz.org aktiv werden!