Eigentlich wollte Tatjana nur drei Jahre in München bleiben – aus ihrer Heimat NRW kannte sie die Vorurteile gegenüber der „spießigen“ Stadt in Bayern zur Genüge. Aber dann lernte sie ihr Münchener Viertel Alt-Sendling – einen charmanten, multikulturellen und weltoffenen Stadtteil – lieben. Hier lebt sie seit 14 Jahren mit ihrer Partnerin Claudia.
Im Haus von Tatjana und Claudia gab es bereits einen guten nachbarschaftlichen Zusammenhalt. Doch dank nebenan.de und einer zündenden Idee ist im Viertel nun eine richtige Gemeinschaft entstanden. Wie es dazu kam, erzählt uns Tatjana im Interview:
In Alt-Sendling seid ihr gut vernetzt, ihr habt Bekannte in der Hausgemeinschaft und einen alteingesessenen Freundeskreis hier. Warum habt ihr euch trotzdem bei nebenan.de angemeldet?
Tatjana: Wir waren neugierig! Freunde im Quartier haben schon über „diese neue Sache“ gemunkelt – ein Online-Nachbarschaftsnetzwerk. Eine Freundin sagte: „Das ist die Zukunft, was total Innovatives!“ Und eines Tages lag tatsächlich der erwartete Flyer mit dem Zugangscode in unserem Briefkasten. Dann haben wir uns sofort angemeldet. Ich habe gehofft, dass wir unser gutes Netzwerk, das bereits im Haus besteht, erweitern und zielgerichteter nutzen können.
Anfang 2017 seid ihr selbst aktiv geworden und habt über die Plattform den „Regenbogen-Stammtisch“ gegründet. Wie kam es dazu?
Tatjana: Am Anfang haben wir uns auf nebenan.de zunächst unterschiedlichen Interessengruppen angeschlossen, zum Beispiel einem Katzensitter-Treffen. Aber dann fanden wir, da fehlt noch was… Uns kam die Idee, dass wir doch einen Stammtisch gründen könnten, der eine bestimmte Nische füllt und Menschen aus der LGBIT-Community und Interessierte zusammenbringen könnte. Deshalb haben wir gedacht: Lass es uns doch einfach versuchen.
Ihr habt dann eine erste Einladung zum Regenbogen-Stammtisch auf nebenan.de veröffentlicht. Was waren eure Erwartungen, wie die Nachbarn reagieren?
Tatjana: Wir sind ziemlich abgeklärt an die Sache rangegangen. Uns war klar, dass es dauern würde, bis sich ein Stammtisch etabliert, aber wir haben uns gesagt, wir gehen ohnehin gerne aus und testen Restaurants. Im schlimmsten Fall sitzen wir zu zweit im Restaurant und Essen was Schönes.
Und ist der „schlimmste Fall“ eingetreten?
Tatjana: Zum Glück nicht, wir waren total überrascht, wie gut die Idee angekommen ist. Tatsächlich waren wir beim ersten Treffen sieben Leute plus Eine, die stündlich eine SMS schrieb, dass sie noch unterwegs sei, aber jeden Moment kommen würde. Später waren wir um 22.30 Uhr wieder zu Hause und sie schrieb, dass sie in ein paar Minuten da sei…
Wie hat sich die Gruppe beim ersten Treffen zusammengesetzt?
Tatjana: Super fand ich von Anfang an, dass wir so ein großes Altersspektrum abdecken, also von Mitte 30 bis über 80 Jahren. Wir haben sogar ein 80-jähriges Ex-Model in der Truppe und wir kannten auch schon einen Teilnehmer von einem anderen Stammtisch! Wir sind Singles, Paare, Rentner, Berufstätige, Kreative, Veganer und einfach offene und interessierte Leute. Es ist fantastisch, dass die Gruppe so heterogen ist!
Wie war die Stimmung beim ersten Treffen mit so vielen Unbekannten?
Tatjana: Das Treffen verlief entspannt, locker, neugierig und freundlich. Alle waren aufgeschlossen, verbindlich und ein bisschen aufgeregt, wen man so antreffen würde. Ob man bspw. die Leute vielleicht schon aus dem Viertel kennt.
Wie ging es dann weiter?
Tatjana: Ich bin wirklich begeistert, was für eine freundliche, treue und verbindliche Gruppe es ist. Nach dem ersten Treffen dachten wir: Wie es denen wohl gefallen hat? Kommen die auch wieder? Aber wir haben mittlerweile einen harten Kern von 12 festen Mitgliedern! Alles super sympathische Leute, die sich regelmäßig jeden Monat in wechselnden Restaurants treffen. Und als wir neulich eine Nachbarin aus der Gruppe auf der Straße getroffen haben, haben wir sie gleich auf einen Kaffee mit nach Hause genommen.
Was wollt ihr mit dem Regenbogen-Stammtisch bewirken?
Tatjana: Unsere Idee war von Anfang an, Brücken zu bauen, Pluralität sichtbar zu machen und Toleranz und Respekt zu entwickeln – für unterschiedliche Lebensentwürfe, Kulturen und Generationen. Wir richten uns an Lesben, Schwule, trans-, inter- und heterosexuelle Menschen (LGBTI und Freunde) in Sendling und Umgebung. Jeder Mensch ist willkommen, der über den Tellerrand hinwegsehen, sich für andere Menschen einsetzen und einen gesellschaftlichen Beitrag leisten möchte. Unser Ziel ist, Mauern und Vorurteile in Köpfen abzubauen, Toleranz und Offenheit für unterschiedliche Lebensformen und Kulturen zu entwickeln sowie nachhaltig und nachbarschaftlich füreinander zu sorgen.
München gilt häufig als recht konservativ. Wie viele „Toleranz-Brücken“ braucht die Stadt noch?
Tatjana: München, Deutschland, Europa und die Welt werden immer Toleranz-Brücken bauen müssen. Es geht nicht darum, dass man irgendwann sagen kann, so, jetzt seid ihr doch alle gleichgestellt, was müsst ihr euch da noch formieren. Nein! Durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch und natürlich auch anhand der aktuellen weltweiten Entwicklung sehen wir, dass bereits gebaute und längst begangene Brücken wieder eingerissen werden.
Es gibt Themen, wie der Schutz von Minderheiten und Menschengruppen, die wir immer verteidigen werden müssen, weil es leider immer Menschen gegeben hat und bedauerlicherweise geben wird, die sich vor „Unbekanntem“ fürchten und Minderheiten oder Menschengruppen angreifen, in Angst und Schrecken versetzen und glauben unterdrücken oder dominieren zu müssen (Stichwort religionsmotivierte Angriffe, Angriffe auf Lesben und Schwule, Angriffe auf Flüchtlinge); all das sind auch Angriffe auf unsere demokratischen Werte, die es zu verteidigen gilt und für die wir immer wieder Brücken neu- und wieder aufbauen werden müssen.
Wie wollt ihr der Botschaft vom Regenbogen-Stammtisch auch außerhalb von Sendling Gehör verschaffen?
Tatjana: Wir überlegen tatsächlich, 2018 mit den Nachbarn und einem eigenen Wagen beim CSD dabei zu sein! Die Sichtbarkeit würde dann weit über unsere Nachbarschaft hinausreichen. Eine Nachbarin hat schon in Aussicht gestellt, dass sie einen Wagen organisieren könnte und wir sind auch schon mit der CSD GmbH in Kontakt. Mal schauen, ob wir es schaffen, das wäre klasse!
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